„Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseins-Zustand. Es ist eine Richtung, kein Ziel.“ (Carl Rogers)
Der Spruch der Monate Juli & August 2017 stammt von einem meiner absoluten Lieblingspsychologen und Psychotherapeuten Carl Rogers. Auf der Liste meiner Lieblingssprüche steht er ganz weit oben und als bekennender „Rogers-Fan“ wollte ich ihn schon lange mit dir hier teilen.
Zum ersten Mal habe ich mich während meiner Ausbildung zur „Psychologischen Beraterin“ und „Heilpraktikerin für Psychotherapie“ mit dem klientenzentrierten Ansatz von Rogers auseinandergesetzt und war schnell begeistert. Auch weil ich so viele Parallelen zur Philosophie des Yoga sehe …
Das humanistische Menschenbild und Rogers klientenzentrierter Ansatz
Falls du dich – genau wie ich – für Psychologie begeisterst, kennst du vielleicht die drei großen Hauptströmungen der Psychologie: die Psychoanalyse (Sigmund Freud, die Triebe und seine berühmte Couch), den Behaviorismus (Watson, Skinner, Pawlow und die Konditionierung) und – zu guter Letzt – die Humanistische Psychologie.
Nachdem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Psychoanalyse und der Behaviorismus die Psychologie dominierten, entwickelte Carl Rogers in den 40er Jahren einen Gegenentwurf zu diesen beiden Schulen: einen nicht-direktiven Therapieansatz, welcher die Grundlage seines klientenzentrierten Beratungskonzept bildet und zu den sog. humanistischen Verfahren zählt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Psychologen und Psychotherapeuten sah Rogers als Vertreter der Humanistischen Psychologie von Grund an das Gute im Menschen und die Einzigartigkeit des Individuums.
In seiner Tätigkeit als klinischer Psychologe stellte er immer wieder fest, dass „der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtung einzuschlagen [ist], welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind.“
(C. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit. 1973, S. 27f.)
Er betonte neben der Fähigkeit des Menschen zur eigenständigen Lösung seiner Probleme besonders den Aspekt der therapeutischen Beziehung, die durch bedingungslose Wertschätzung, Empathie und Authentizität gekennzeichnet (therapeutische Beziehungstriade) und nicht direktiv ist (nach dem Motto: der Mensch weiß am besten, was gut für ihn ist. Der Therapeut gibt keinerlei Ratschläge und enthält sich jeglicher Erklärungen, Deutungen oder Interpretationen).
Der von Rogers geschaffene und von einem humanistischen Menschenbild geprägte klientenzentrierte Ansatz ist (sollte?) heute fester Bestandteil der Gesprächsführung im Rahmen von Therapiegesprächen und im pädagogischen Alltag und wirkt in viele Bereiche der angewandten Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Soziale Arbeit, Seelsorge und Medizin hinein.
Der sich selbst aktualisierende Mensch und die „fully functioning person“
Von einem humanistischen Menschenbild geprägt ging Rogers von einer dem Menschen innewohnenden Tendenz aus, sich vorwärtsgerichtet immer weiter auf eine psychische Reife hin zu entwickeln. Diese sog. Aktualisierungstendenz ist als eine Art übergeordnete Kraft zu verstehen, die danach strebt, das Potenzial der eigenen Persönlichkeit zu entfalten und sich selbst zu verwirklichen.
Das spannende dabei ist: Das Entfaltungsstreben leitet den Menschen nach Rogers ein Leben lang. Es gibt keinen Endpunkt im psychischen Reifungsprozess. Die „fully functioning person“ gibt es nicht. Sie ist ein nie zu erreichender Idealzustand, da sich der Mensch als „Person in Prozess“ in ständiger Entwicklung befindet. Passend dazu ist eben auch der Spruch des Monats …
Rogers betont die Nichterreichbarkeit einer „fully functioning person“ und trotzdem kann sie als Leitbild dienen, Dinge anzunehmen und sich dem Fluss des Lebens hinzugeben.
Die hypothetische „fully functioning person“ ist vollständig kongruent und psychisch gesund, da sie …
- offen gegenüber Erfahrungen jeglicher Richtung ist. Sie leugnet und unterdrückt diese nicht, da sie über eine flexible Selbststruktur verfügt. Dies ermöglicht ihr, neue Erfahrungen – ob positiv oder negativ – zu integrieren.
- im Mittelpunkt ihrer subjektiven Realität lebt – eine Art Hier-und-Jetzt-Zustand.
- volles Vertrauen in ihre kreative Anpassungsfähigkeit hat.
Damit ist der Begriff der „fully functioning person“ gleichbedeutend mit einer optimalen psychischen Ausgeglichenheit, psychischen Reife, völliger Kongruenz und Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen.
Wenn man sich diese Charakteristika ansieht, wird schnell klar, warum es sich dabei um „Prozessmerkmale“ handelt. Eine „Richtung“ und eben kein zu erreichendes „Ziel“ …
Die Sache mit der Selbstverantwortung
Was ich an Rogers und dem Spruch des Monats so spannend finde ist, dass er an die Selbstverantwortung des Menschen appelliert. Da der Mensch alles zu der Lösung seiner Probleme Notwendige in sich trägt, ist er selbst am besten in der Lage, seine persönliche Situation zu analysieren und Strategien zu erarbeiten. Jede Person ist der beste Experte für sein eigenes Leben und verfügt über ein großes Repertoire an Ressourcen. Diese gilt es bewusst zu machen.
Wie oft denken wir, dass wir die Hilfe oder einen Ratschlag eines Freundes, Bekannten, Familienmitglied oder sogar Therapeuten und Coach benötigen? Aber bringt uns dieser gut gemeinte Tipp oder Ratschlag denn wirklich weiter? Oder entfernt er uns eigentlich nur von unserer eigenen Intuition – von der Lösung, die nur wir selbst in uns tragen?
Auf diese Fragen habe ich keinerlei Antwort. Dennoch merke ich bei mir selbst immer mehr (vielleicht auch durch meinen neuen Weg mit Yoga & Psychologie), dass ich mich zwar gerne mit anderen über Dinge austausche und inspirieren lasse, aber am Ende alleine durch meine Themen gehen und eigene Lösungen finden muss.
Manchmal denken wir im ersten Moment, dass es leichter wäre, wenn andere uns bei jedem schwierigen Schritt begleiten und Lösungen für uns suchen. Aber am Ende gibt es einem doch viel mehr Selbstvertrauen, wenn man – durchaus inspiriert von außen – eine eigene Lösung aus sich selbst heraus gefunden hat und an der schwierigen Situation gewachsen ist. Das heißt natürlich nicht, dass man sich keine Hilfe und Unterstützung holen soll, aber wirklich abnehmen kann einem die Situation sowieso keiner.
Ein Therapeut oder Berater, der nach Rogers klientenzentrierter Gesprächsführung arbeitet, bietet lediglich Hilfe zur Selbsthilfe. Er gibt keinerlei Ratschläge und Empfehlungen, da dies implizieren würde, dass er es besser weiß, als der Klient und somit nicht mehr auf Augenhöhe kommuniziert.
Klientenzentrierte Gesprächsregeln sind daher viel mehr als plumpe Techniken. Es geht dabei vielmehr um aus eigener Überzeugung verinnerlichte Einstellungsmerkmale und eine Haltung von bedingungsloser Wertschätzung, Empathie und Authentizität (Beziehungstriade). Nach dieser Haltung ist das einzige, was ein „Berater“ leisten kann, ein förderliches Klima für den (eventuell bislang gestörten) Wachstumsprozess zu schaffen und ein wertschätzendes, empathisches und authentisches Beziehungsangebot zu machen.
Diese Haltung finde ich durchaus auch in der Philosophie des Yoga immer wieder. Eine Haltung, die im ersten Moment so einfach klingt, aber – wenn man ganz ehrlich zu sich ist – dann oft doch nicht immer ganz gelingen mag. Ein Berater, Therapeut oder Yogi muss dazu nämlich ganz schön weit fortgeschritten sein in seiner eigenen Selbstkongruenz und wirklich aus tiefstem Herzen das Leben als Prozess anerkennen, in dem man vielleicht niemals richtig ankommen wird …
Hingabe (im Yoga auch Bhakti genannt), Kontrolle loslassen, vertrauen und annehmen. Kein einfaches Ziel! Aber vielleicht ist es das auch gar nicht. Vielleicht ist auch dies eine „Richtung, kein Ziel.“
Bleib gesund
1 Kommentar
Liebe Louisa,
das ist ein ganz wunderbarer Blogeintrag und ich danke Dir herzlich, dass Du Deine Gedanken zu dem Thema aufgeschrieben hast. Ich lese deine Texte unheimlich gerne. Sie haben einen großen Mehrwert für mich!
Liebe Grüße von Sunny